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Wenige Jahre nur liegen zwischen Max Regers 100. Psalm (1908/9) für Chor und Orchester und dem A-cappella-Satz „Der Mensch lebt und besteht nur eine kleine Zeit“ aus den dem „Deutschen Psalter“ von 1914. Und doch trennen Welten den wilhelminischen Bombast des einen vom herben Gesualdo-Ton des anderen Werkes. Beide rahmen am Mittwochabend in der anständig besuchten Thomaskirche die Variationen über ein lustiges Thema Johann Adam Hillers von 1907, wo Reger nochmals andere anschlägt. Und doch sind all diese Welten in ihrer weit ausschwingenden Harmonik und dem Reichtum ihrer melodischen Erfindung sofort als Werke aus der Feder Max Regers zu erkennen. Die Programmzusammenstellung dieses Festkonzerts zum 100. Todestag des Komponisten bricht also eine Lanze für die Vielseitigkeit eines noch immer Unterschätzten. Sie zeigt allerdings auch, woher die Probleme bei der Auseinandersetzung mit seiner Musik rühren: Immer wieder schiebt sich ihr nicht zu leugnendes Zuviel in den Vordergrund.


Insofern ist das klug zusammengestellte Programm vielleicht doch falsch herum gebaut: Würde das Publikum die schlichte Kraft von „Der Mensch lebt und besteht nur eine kleine Zeit“ mit in die laue Frühlingsnacht genommen haben, hätte manch einer sein Reger-Bild gewiss noch einmal überdacht. Zumal die Thomaner unter ihrem Interims-Kantor Gotthold Schwarz sensationell singen. So rein wie der Satz tönen die Stimmen, makellos durchmessen sie in kühnen Schritten den Quintenzirkel, ebenso makellos artikulieren sie den Text. Alles im Dienste einer subtilen Wahrhaftigkeit, die in wenigen Minuten das Dasein umfängt.


Im monströsen 100. Psalm singt auch der Leipziger Universitätschor unter Universitätsmusikdirektor David Timm, Regers Amts-Urenkel, grandios. Warm, weich und kraftvoll tönt der Beginn, beinahe impressionistische Farben schillern im Mittelteil, und im kontrapunktischen Dickicht der gewaltigen Schlussfuge behalten die Choristen auch im Unterholz den Überblick, verschaffen sich bis beinahe zum Schluss Gehör gegenüber den unter Timms Leitung immer enthemmter feuernden Batterien des MDR-Orchesters – und klingen dennoch auf weiten Strecken nicht angestrengt, sondern strahlend schön. Im Mittelteil hat auch dieser Psalm Momente berührender Verinnerlichung, verstörender Modernität. Aber am Ende verfestigt das Regers eigener Steigerungsdramaturgie verpflichtete Programm eben doch das Klischee vom hemmungslos auftrumpfenden Fugen-Verfertiger.


Dabei haben auch die vergleichsweise populären Hiller-Variationen mit ihrer ebenso kunstvoll, aber filigraner gebauten Schlussfuge zuvor einen anderen Reger präsentiert. Hell lässt Timm die MDR-Sinfoniker klingen, beinahe schlank, was in Verbindung mit der nicht unproblematischen Akustik der Thomaskirche für sanfte Transparenz gut ist. Mit sinnlicher Selbstverständlichkeit holt Timm hier aus dem fabelhaften Orchester das heraus, was Reger am besten konnte: Da löst sich der Kontrapunkt auf in einem sinfonischen Gewebe, in dem Linie, Harmonie und Instrumentation in schwelgerischer Schönheit unauflöslich miteinander verschmelzen. Ein Meisterwerk, meisterlich dirigiert, meisterlich gespielt.